Missbrauchsfälle Kath. Kirche: Statement der Pfarreileitung

Wir können nicht zur Tagesordnung zurückkehren!
Kommentar zu den Missbrauchsfällen der Katholischen Kirche in der Schweiz

Die meisten Seelsorgenden der Katholischen Kirche Schweiz haben mit Bangen auf die heutige Pressekonferenz zur Studie der Universität Zürich über die Missbrauchsfälle der Katholischen Kirche Schweiz, geschaut. Nicht deshalb, weil sie sich des Missbrauchs schuldig gemacht haben, sondern weil sie die Schuld, welche die Kirche über Jahrzehnte durch Wegschauen, Vertuschen und Ignorieren auf sich geladen hat, nun ausbaden müssen. Ein Trost bleibt: das offensichtliche Bagatellisieren und Ignorieren der leidvollen Tatsachen wäre heute so vermutlich kaum mehr möglich. Wir alle sind hoch sensibel auf das Thema Missbrauch und Kirche geworden. Jeder Seelsorger, jede Seelsorgerin wird seit einem Jahrzehnt durchleuchtet auf seine oder ihre Vergangenheit.

Die Kirche sieht sich in ihrer grössten Krise – vermutlich der noch grösseren als es die Reformationszeit war. Nicht zu Unrecht ist die Glaubwürdigkeit der Kirche und ihrer Vertreter in Frage gestellt. Sexueller Missbrauch – sei an Erwachsenen oder - noch schlimmer - an wehrlosen Kindern, gab und gibt es vermutlich in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Jeder Missbrauch ist ein Skandal und zutiefst verwerflich. Die Kirche führt diese Rangliste zurecht an, da sie für sich den ethisch-moralischen Anspruch reklamiert. Die kirchlichen Würdenträger wären eigentlich Menschen des absoluten Vertrauens. Die biblische Botschaft ist eine Botschaft der Solidarität, der Gerechtigkeit und der Menschenwürde. Jeder Missbrauchsfall hat diese Prinzipien mit Füssen getreten. Unser Argument, dass es doch vieles Gutes gibt, was Kirchen und die ihre caritativen Institutionen leisten. Dass sich, auf die Jahre und die Anzahl Menschen hochgerechnet, vermutlich ein einstelliger Prozentsatz von Würdenträgern schuldig gemacht hat, vermag sich nicht mehr zu halten. Zu lange hat man den einstelligen Prozentsatz von Tätern aus falschem Mitleid geschützt. Die christliche Haltung der Vergebung steht bei solch schlimmen Straftaten an. Vergebung ist doch erst möglich, wenn Einsicht und Gerechtigkeit einkehren. Darin hat die Kirche versagt. Ein Zeitgenosse pflegte zu sagen: «Tausend Gassenküchen wiegen einen einzigen Missbrauchsfall nicht auf». Wie recht er hat, denn es geht um das grösste «Kapital» der Kirche, um ihre Glaubwürdigkeit und gerade um die Gerechtigkeit gegenüber Opfern, die sich bei einem solch grotesken Machtmissbrauch nicht wehren können.

Was dies nun für die Kirche heissen wird, wird sich zeigen. Sicher ist, dass wir Kirchenvertreter:innen nicht zur Tagesordnung zurückkehren können und wollen. Es ist nicht mehr möglich, diese erschütternde Krise abzusitzen. Der Zerfall des kirchlichen Einflusses in der Gesellschaft gibt ihr die Vorrangstellung definitiv nicht mehr zurück. Ich glaube, dass es ohne fundamentale Reformen in Amtsfragen und Strukturen nicht geht, wenn die Kirche wieder zu einer glaubwürdigen Zeugin der Liebe Gottes werden will.

So gesehen birgt diese tiefe Glaubwürdigkeitskrise eine Chance: Die Kirche muss zu den Wurzeln Jesu zurückfinden. Sie muss das «Büssergewand» zeichenhaft sich selbst überwerfen, Einsicht zeigen und um Vergebung bitten. Sie muss ihre Strukturen nach und nach überdenken und neu ordnen. Sie kommt nicht drum herum, sich die Zölibatsfrage und Gechlechterfrage ernsthaft zu stellen. Und nicht zuletzt tut sie sich gut daran, sich weniger auf die Tradition zu berufen, sondern viel mehr wieder bewusst hinzuhören, was die Menschen von heute bewegt und vor allem, was der göttliche Geist in der Welt von heute von ihr fordert.

Teufen, 13.9.2023
Stefan Staub, Diakon & Pfarreileiter

Aufarbeitung sexueller Missbrauch in der römisch-katholischen Kirche

Die katholische Kirche Schweiz lässt die Geschichte des sexuellen Missbrauchs von unabhängiger Seite wissenschaftlich erforschen.

Zur Webseite: www.missbrauch-kath-info.ch